Begrüßungsrede des Präsidenten der DGZMK

Sehr geehrte, liebe Ehrengäste,sehr geehrter Herr Festredner,meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich begrüße Sie sehr herzlich zu der größten und wichtigsten gemeinsamen Veranstaltung der drei großen zahnärztlichen Organisationen, mit Bundesversammlung der BZÄK, Vertreterversammlung der KZBV und Kongress, für den wir als DGZMK vornehmlich stehen: Herzlich Willkommen zum Deutschen Zahnärztetag 2017! Wir erwarten eine große Zahl von Kolleginnen und Kollegen, die den Kongress besuchen, weil sie aktuelles Wissen in kompakter Form aufnehmen wollen. Wissenstransfer aus der Wissenschaft in die Praxis zu leisten, ist eines unserer zentralen Anliegen. Dazu können wir vor allem auf die uns angeschlossenen zurzeit 40 Gruppierungen zurückgreifen, von der großen Fachgesellschaft bis hin zum Arbeitskreis. Unser Angebot von qualitätsgesicherter Information und Fortbildung beschränkt sich aber nicht nur auf den Kongress beim Deutschen Zahnärztetag. Seit einem Jahr betreiben wir die Wissensplattform owidi, die wir nun bereits mehrfach unter unseren Mitgliedern beworben haben. Das digitale Zeitalter der Zahnmedizin hat längst begonnen, nicht nur in der klinischen Tätigkeit, sondern auch beim Informieren, Lehren und Lernen. Deshalb benötigen wir auch dieses neue und zeitgemäße Werkzeug der Wissensvermittlung. Mit der APW sind wir erfolgreich und breit aufgestellt am Fortbildungsmarkt etabliert. Durch unsere Leitlinien und die Mundschleimhaut- und Röntgenbefundberatung versuchen wir Ihnen praktische Hilfestellungen im Alltag zu geben. Auch unsere verstärkten Aktivitäten in der Fach- und Laienpresse möchte ich in diesem Kontext herausstellen, mit interdisziplinären Themen, wie z.B. auf unserer Pressekonferenz zu Metallen im Mund im Haus der Bundespressekonferenz im Mai dieses Jahres.

In allen diesen Bereichen transportieren wir Wissen verschiedener sogenannter Evidenzlevels. Wenn ich das vergangene Jahr aus DGZMK-Sicht Revue passieren lasse, ist es gerade dieses Thema Evidenz, das uns nahezu durchgehend beschäftigt hat. Deshalb sei mir ein Exkurs zu diesem Thema gestattet.

Im Fokus standen dabei die IQWiG-Berichte zu isoliert applizierten Fluoridlacken bei initialer Milchzahnkaries und zur Behandlung von Parodontopathien. Insbesondere bei dem zweiten Thema sind die Wellen sehr hoch geschlagen. Erwähnen möchte ich aber auch die jetzt laufenden Diskussionen  um die Fluoridierung im Säuglings- und Kleinkindalter, bei der es, wie wahrscheinlich den meisten von Ihnen bekannt ist, unterschiedliche Sichtweisen der Kinderärzte und Zahnärzte gibt. Auch hier geht es um belastbare Evidenz.

Um es vorweg zu nehmen, ich gehe davon aus, dass Evidenz, Evidenzbewertung und evidenzbasierte Medizin unsere ständigen Begleiter bleiben werden. Wir sollten uns dem Thema daher nicht verschließen. Eine sachliche Diskussion ist dringend erforderlich! Lassen Sie mich dazu die Behandlung der Parodontopathien nochmals aufgreifen. Wir wissen, dass die Evidenzbasis unserer zahnärztlichen Therapie zum Teil spärlich ausfällt. Deshalb sind evidenzmedizinische Bewertungen, die sich ausschließlich auf die bestmögliche Evidenz stützen, für uns Zahnärzte oft frustrierend. Die resultierenden Ergebnisse sind äußerst schwer vermittelbar, ja stoßen häufig auf komplettes Unverständnis. Sie bilden die Versorgungsrealität nicht ab und können letztlich sogar für die Qualität der Versorgung schädlich sein. Wir können aus dem IQWiG-Vorbericht zu den Parodontopathien lernen, dass der Ansatz der bestmöglichen Evidenz in vielen Fällen nicht passfähig ist, sondern auf die bestverfügbare Evidenz zurückgegriffen werden muss, um den aktuellen Wissenstand angemessen darzustellen.

Wir als wissenschaftliche Gesellschaft sind unabhängig und haben damit das Privileg, die Sachlage mehr oder weniger emotionslos bewerten zu können. Grundsätzlich gilt die Freiheit der Wissenschaft. Keine wissenschaftlich seriöse evidenzmedizinische Recherche ist verboten, solange sie mit einem validen und offengelegten Methodeninventar durchgeführt wird.  Die Interpretation sollte allerdings kritisch erfolgen, auch unter Berücksichtigung der Versorgungsrealität. Ich denke, die Gefahr einer puristisch evidenzmedizinischen Sicht für die praktische Zahnheilkunde vor Ort wurde in diesem Jahr eingehend thematisiert. Die zweite Gefahr, die in Bewertungen wie dem IQWiG-Bericht zur Behandlung von Parodontopathien liegt, ist die Gefahr einer pauschalen Diskreditierung einer evidenzbasierten Zahnmedizin. Diese sehe ich als mindestens genauso schwerwiegend wie die versorgungspolitischer Fehlinterpretationen an. Keinesfalls darf die Diskussion um die IQWiG-Berichte dazu beitragen, die evidenzbasierte Medizin und ihre vielfältigen sinnvollen Ansätze in der Fachcommunity und der Öffentlichkeit negativ zu belegen. Das wäre rückwärtsgewandt und nicht zukunftsfähig. Evidenzbasierte Ansätze sind Grundlage für Leitlinien und Handlungsempfehlungen, die aus unserer qualitätsgesicherten Versorgung nicht mehr wegzudenken sind. Bei der Förderung von Leitlinien arbeiten DGZMK, BZÄK und KZBV vorbildlich im ZZQ zusammen. Jeder von Ihnen wird bestimmte zahnmedizinische Maßnahmen kennen, bei denen der Nutzen auch aus praktischer Erfahrung heraus nicht eindeutig belegt ist. Dort kann die evidenzbasierte Medizin helfen, solche Maßnahmen durch Maßnahmen mit nachgewiesener Wirksamkeit zu ersetzen. In diesem Bereich gibt es durchaus Handlungsbedarf. Den Anspruch der modernen Zahnmedizin, sich auf solche wissenschaftlichen Belege zu beziehen, können und dürfen wir nicht aufgeben.

Man könnte natürlich fragen, warum es so wenig Evidenz im Bereich der Zahnmedizin gibt. Oft wird unreflektiert gefordert, dann eben nun endlich entsprechende randomisierte kontrollierte Studien zu konzipieren und durchzuführen. Nur, ganz so einfach ist es in der Realität nicht. Grundsätzlich ist der wissenschaftliche Output der deutschen Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde trotz offensichtlich ungünstiger Rahmenbedingungen,  Unterfinanzierung und einer teilweise demotivierenden Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses erstaunlich groß. Hier sind in der jüngeren Vergangenheit erhebliche Fortschritte gemacht worden. Noch immer unstrittig ist allerdings ein weiterhin umfangreicher Bedarf an hochwertiger Grundlagenforschung, klinischer Forschung und Public-Health- und Versorgungsforschung. Die Zahnmedizin der Zukunft benötigt eine tragfähige wissenschaftliche Basis. Dies wird angesichts der deutlich sichtbaren epidemiologischen Veränderungen, die in der DMS V erkennbar werden, und dem rasanten zahnmedizinischen Fortschritt sehr deutlich. Seit Jahren, man kann sagen seit Jahrzehnten, wird von verschiedenen Seiten versucht, die Rahmenbedingungen für hochwertige zahnmedizinische Forschung zu verbessern. Der Wissenschaftsrat hat im Jahr 2016 in seinen Vorschlägen zur Stärkung der Wissenschaft in der Medizin ein  Maßnahmenpaket vorgelegt. Dabei werden die strukturellen Besonderheiten der Zahnmedizin deutlich und richtig thematisiert. Es erscheint dringend geboten, eine Forschungstätigkeit attraktiver zu machen und den jungen Absolventinnen und Absolventen auch attraktive Karrierewege aufzuzeigen. Leider sind die aktuellen Formate einer Forschungslaufbahn noch immer nicht kompatibel mit den Lebensmodellen vieler junger Frauen. Das verstärkt das Problem des Nachwuchsmangels in der zahnmedizinischen Forschung zusätzlich, bei einem Anteil von über 70 % Studentinnen. Wir müssen auch akzeptieren, dass die meisten Zahnmedizinstudierenden von Anfang an auf eine klinisch-praktische Tätigkeit ausgerichtet sind. Das ist ein Unterschied zur Medizin mit ihrem sehr breiten Fächerspektrum und einer sich darin widerspiegelnden unterschiedlichen Interessenlage bei den Studierenden. Daher sind die Verankerung wissenschaftlicher Inhalte im Studium und strukturierte Promotionsprogramme grundsätzlich geeignete Maßnahmen. Leider kosten die vielen sinnvollen Maßnahmen Geld. Wie wir jetzt schmerzlich am Beispiel der AOZ feststellen müssen, werden an diesem Punkt die Grenzen der Reformwilligkeit relativ schnell erreicht. Der politische Wille für einen zusätzlichen Mitteleinsatz hält sich in engen Grenzen. Außerdem müssen wir feststellen, dass die Ressourcen im Bereich Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde in den letzten Jahrzehnten überproportional stark beschnitten wurden. Zusammenlegungen von Abteilungen und eine rückläufige Zahl von Professuren kennzeichnen an einigen Standorten bereits eine sich immer schneller drehende Abwärtsspirale. Alles schön zu reden, hilft an diesem Punkt nicht weiter. Indirekt spielen Überlastung im Lehrbereich im Ergebnis von Kapazitätsklageverfahren und eine allgemein hohe Arbeitsverdichtung vorrangig in der Lehre und Krankenversorgung zusätzlich eine forschungsbehindernde Rolle. Vielen universitären Standorten ist durch die vorherrschenden Rahmenbedingungen von vornherein die Chance genommen, international kompetitive Forschung zu betreiben und entsprechende Forschungsschwerpunkte zu bilden. Mit der bundesweiten Chancengleichheit ist es dort nicht weit her. In diesem Zusammenhang möchte ich das kürzlich erschienene Gutachten des Wissenschaftsrates zur Universitätsmedizin in Sachsen zitieren, das sich auf die Medizin insgesamt bezieht. Zum Thema Finanzierung wird ausgeführt:  „Derzeit können aus Sicht der Bewertungsgruppe weder der Erhalt des erreichten Niveaus noch die Weiterentwicklung der Standorte nachhaltig gewährleistet werden.“

Abschließend möchte auch noch die durch die meisten Universitäten vorgegebenen Bedingungen der Leistungsbewertung im Bereich Forschung kritisieren. Im Zeitalter der Dominanz der Impactfaktoren ist es wenig attraktiv, aufwändige klinische Studien aufzulegen, die zumeist lange dauern und letztlich auch nicht mehr Impact als kompakte In-vitro-Studien einbringen. Es sind aber eben gerade die klinischen Studien, die Evidenz im Sinne der evidenzbasierten Medizin generieren.

Die Evidenzbasierung wird uns weiter beschäftigen. Eine grundsätzliche Veränderung der Rahmenbedingungen in diesem Bereich ist zurzeit nicht in Sicht. Die Hoffnung bleibt, dass sich auch in der Politik zunehmend eine Sichtweise durchsetzt, die die Sinnhaftigkeit eines vermehrten Ressourceneinsatzes auch in der Zahnmedizin erkennt, ohne schnelles Return of Investment und wahltaktische Breitenwirksamkeit erwarten zu können.