Deutscher Zahnärztetag 2019

Rede des DGZMK-Präsidenten Prof. Dr. Michael Walter zur Eröffnung des Deutschen Zahnärztetages 2019 am 15.11. in Berlin

Letzte Amtshandlung: Prof. Dr. Michael Walter bei 
der Eröffnung des Deutschen Zahnärztetages in Berlin  
Foto: Tobias Koch

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich möchte mein letztes Statement im Amt der Bedeutung der Wissenschaft und dem Miteinander von Wissenschaft und Standespolitik widmen. Vorweg: Eine Abgrenzung oder gar ein vermeintlicher Antagonismus von Wissenschaft und Praxis sind künstlich und schädlich, sowohl akademisch als auch berufspolitisch.

Im Juli erschienen vielbeachtete Publikationen zur Mundgesundheit aus einer globalen Perspektive im Lancet, das zu den hochrangigsten medizinischen Journalen überhaupt gehört. Kernaussagen: Die Zahnmedizin des 21. Jahrhunderts befindet sich in einer Krise und wird den bestehenden großen Herausforderungen nicht gerecht. Dieser Zustand sei nicht die Schuld der Zahnärzte vor Ort, sondern sei begründet in der allgemeinen Behandlungsphilosophie, den Gesundheits- und Versorgungssystemen.

Die Autoren weisen auf gemeinsame Risikofaktoren mit anderen nicht übertragbaren Erkrankungen hin, wie Zuckerkonsum, Rauchen, Alkohol, soziale und wirtschaftliche Determinanten. Als besonders beunruhigend werten sie den Zuckerkonsum auf die Prävalenz von Karies, Übergewicht und damit assoziierten Erkrankungen wie Diabetes. Global gehen sie von einer über die letzten 30 Jahre kaum veränderten Krankheitslast bei Karies und Parodontitis aus. Schlussfolgernd wird festgestellt, dass die Zahnmedizin einem überwiegend behandlungsorientierten, technischen, zunehmend hochtechnisierten und spezialisierten Ansatz folgt. Dabei stünden zunehmend ästhetische Behandlungen im Fokus. Eine radikale Reform sei dringend erforderlich.

Die Bundeszahnärztekammer hat mit einem ausgewogenen Statement auf diese Aussagen reagiert, mit speziellem Fokus auf Prävention und Zuckerkonsum und zu Recht auf die erhebliche Verbesserung der Mundgesundheit hierzulande hingewiesen. Dass die Aussagen der Lancet-Autoren nicht 1:1 auf Deutschland übertragbar sind, ist unstrittig. Trotz alledem: Bei ehrlicher Betrachtung der Versorgungsrealität kann man einen mehrheitlich auf Behandlung ausgerichteten Ansatz nicht abstreiten. Auch das Argument einer stark technisierten und dabei zunehmend auf High-Tech-Verfahren und Ästhetik fokussierten Zahnheilkunde greift durchaus, vielleicht sogar in Deutschland besonders. Ich bin von Hause aus Prothetiker, kann mich aber dieser Sicht nicht verschließen.

 

Die Lancet-Publikationen zeigen, wie wichtig eine unabhängige, wissenschaftliche Bewertung aus einer übergeordneten Perspektive ist, wie untrennbar Wissenschaft und Versorgung verbunden sind und wie wichtig die Frage ist, wie wir uns bzw. die Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde eigentlich definieren.

Die DGZMK steht für die unabhängige Wissenschaft und satzungsgemäß für die Förderung der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Als Dachorganisation von über 40 wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Gruppierungen haben auch wir es zuweilen mit internen Partikularinteressen zu tun. Unser Anspruch ist es aber, aus einer übergeordneten Sicht zu agieren und die Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde als Ganzes weiterzuentwickeln. Dabei geht es um das ärztliche Fachgebiet mit all seinen klinischen und außerklinischen Facetten, die wissenschaftliche Grundlage und natürlich die Mundgesundheit der Menschen.

Rückblickend auf sechs Jahre im Vorstand und drei Jahre als Präsident der DGZMK würde ich mir noch mehr konstruktive Zusammenarbeit der drei großen zahnärztlichen Organisationen wünschen. Hier gibt es noch Luft nach oben, Stichwort Deutscher Zahnärztetag, der leider nur noch bilateral und örtlich getrennt veranstaltet werden kann. Die Zusammenarbeit der Organisationen sollte auf Augenhöhe und im Dialog geschehen, natürlich auch nicht um jeden Preis. Den eigenen Auftrag im Auge behalten, aber offen für Argumente der anderen sein, die eigene Identität wahren und trotzdem der gesamten Zahnmedizin verpflichtet bleiben, wären für mich die Maximen.

Lassen Sie mich einige aktuelle Aktionsfelder aus DGZMK-Sicht ansprechen, die naturgemäß auch die Standespolitik bewegen.

Das topaktuelle Thema ist die neue Approbationsordnung, die nun also doch kommen wird. Für die Universitäten ergeben sich daraus einschneidende Veränderungen. Im Mittelpunkt stehen dabei organisatorische und inhaltliche Fragen und die noch immer ungeklärte Ausfinanzierung. Welche Auswirkungen die neuen Schwerpunktsetzungen und Rahmenbedingungen auf die Qualifikation unserer Absolventen haben werden, wird allerdings erst auf lange Sicht zu beurteilen sein. Wegen der gewünschten und umgesetzten Verschiebung zu mehr Medizin und mehr Wissenschaft sehe ich hier ein schlüssiges Gesamtkonzept aus Ausbildung und substanziell reformierter Weiterbildung als unumgänglich an. Hier liegen die Vorstellungen zwischen den Organisationen teilweise noch weit auseinander.

Ein ehrliches Wort zum facettenreichen Thema Qualität. Hier kommen wir viel zu langsam voran. Aktuell ruhen sogar die trilateralen Aktivitäten bei den Leitlinien und Patienteninformationen. Unabhängige Leitlinien sind aber essenziell für die Qualität in der Medizin. Seit Jahren werden von der DGZMK und ihren Fachgruppierungen Leitlinien und Wissenschaftliche Mitteilungen zu den verschiedensten Themen erstellt. Wegen des hohen Aufwandes und der begrenzten Förderung ist der Prozess eher schwerfällig und der Abdeckungsgrad dieser Handlungsempfehlungen insgesamt noch zu gering, besonders auch bei besonders häufigen Maßnahmen. Ich nenne hier beispielhaft die Gebiete Füllungstherapie, Endodontie und Prothetik. Was wäre die Innere Medizin ohne Diabetes-Leitlinien? Es freut mich aus diesen Gründen sehr, dass die DGZMK ein nun eigenes komplementäres Format im Bereich Qualität anbieten kann. Um einfache und klare Entscheidungshilfen geben zu können, sollen „Kompaktempfehlungen der DGZMK“ als gemeinsame Initiative aus den Fachgruppierungen heraus erarbeitet werden. Es handelt sich um ein „Kitteltaschen-Format“. Aus hochwertigen Quellen werden Empfehlungen im Umfang von wenigen Sätzen abgeleitet, die sozusagen mit einem Blick erfasst werden können. Das Format ist nicht für jedes Thema geeignet und kann Leitlinien nicht ersetzen; auf bestimmten Gebieten können aber sicher häufige Fragen der klinischen Praxis gut damit adressiert werden. Wir hoffen auf eine breite Akzeptanz innerhalb der DGZMK-Gemeinde und natürlich bei allen Zahnärzten. Erste Kompaktempfehlungen wurden in der letzten Woche verabschiedet und erscheinen demnächst, u.a. in der DZZ.

In den Kontext der Translation von aktuellem Wissen passen auch die erfolgreichen wissenschaftlichen Pressekonferenzen, die die DGZMK seit 2017 jährlich zu allgemein interessierenden Themen abhält. In diesem Jahr war der Anlass die Veröffentlichung der neuen Bruxismus-Leitlinie und der parallel veröffentlichten Patienteninformation. Das Presseecho war nicht so überwältigend wie im letzten Jahr bei MIH, aber doch breit und ermutigend. Das Format hat sich gut bewährt, fördert die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und natürlich die Wahrnehmung der wissenschaftlichen Zahnheilkunde in Gestalt der DGZMK und Ihrer Fachgruppierungen nach innen und außen.

Im Bereich der Forschungsförderung wurde ein Sonderprogramm für klinische Studien nunmehr mit zwei Projekten gestartet. Wir haben dabei die Fördersummen massiv erhöht und möchten damit einen Beitrag zur Stärkung der Evidenzbasierung leisten. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Bedeutung der wissenschaftlichen Untersetzung der Zahnmedizin kontinuierlich steigen wird. Ich bin mir aber auch bewusst, dass Zahnmedizin vor Ort nicht in dem Setting klinischer Studien stattfindet. Zusammengeführt werden diese Aspekte in der Versorgungsforschung. Dieser Forschungszweig ist in Deutschland in der Zahnmedizin leider noch unterentwickelt. Die Lancet-Artikel zeigen eindringlich auf, dass auf dem Gebiet der unabhängigen Public-Health- und Versorgungsforschung mehr getan werden muss.

Zusammenfassend blicke ich durchaus positiv in die Zukunft. Es wurde von allen drei großen zahnärztlichen Organisationen vieles erreicht. Darauf lässt sich aufbauen. Ich wünsche der Bundeszahnärztekammer, der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde eine glückliche Hand bei der Bewältigung der Herausforderungen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene, im Sinne aller Akteure und zum Wohl der Patienten.